Wie oft haben Sie diese Woche Sätze gesagt wie „Ich muss weiter“, „Ich hab’s eilig“, „Ich wurde aufgehalten“? Immer in Eile, immer die Uhr im Blick, hetzen wir von Termin zu Termin. Unsere Kolumnistin Julia Collani wurde zufällig Zeugin, wie jemand dieses System aus den Angeln gehoben hat. Dieser jemand hat nicht nur sie verblüfft und zum Nachdenken angeregt…Dieser Tage im Zeitschriftenladen im S-Bahn-Untergeschoss, Berufsverkehr. Anzugträger und I-Pod-Hörer drängen sich an den Auslagen. Alle haben die Uhr im Blick, die meisten wollen eine Bahn erwischen, viele sind in Eile, manche legen ihr abgezähltes Kleingeld auf den Tresen und hasten wortlos weiter.
Im Laden ist eine einzige Frau damit beschäftigt, die Tageszeitungen am Ständer zu sortieren. Dabei will sie eigentlich zur gleichen Zeit kassieren, in nullkommanix hat sich hinter der Kasse eine Schlange Wartender gebildet. „Ich bin sofort da“, ruft die Frau hinüber und eilt los.
„Ich hab Zeit“, antwortet da der Mann an vorderster Stelle vor dem Tresen, ein gut gekleideter Mann im Rentenalter, mit brauner Haut und Gesichtszügen, die seine zentralasiatische Herkunft verraten. Die beiden Kunden hinter ihm halten die Luft an: Hat der etwa wirklich gesagt: „Ich hab Zeit?“ „Ich aber nicht!“, scheint ihnen auf den Lippen zu liegen.
Dann fährt der Mann mit säuselndem Akzent fort. „Ich habe immer Eile gemacht, immer Stress und schnell, schnell. Und dann bin ich ein Herzkasperl geworden. Jetzt mach ich langsam. Ist besser so“, sagt er zur Kassiererin. „Auch für Sie.“
Die Frau blickt verdutzt von ihrer Kasse hoch. „Das hört man hier selten, dass einer Zeit hat“, sagt sie. Und schiebt schlagfertig hinterher: „Danke, das werde ich mir zu Herzen nehmen!“
Es wird derzeit viel geschrieben, geschimpft und wissenschaftlich bewiesen: Das aktuelle Leben hat mit all seinen technischen Errungenschaften für uns einen zuvor nie dagewesenen Stresspegel parat. Nicht nur im Bahnhofskiosk fühlt selten jemand, Zeit zu haben.
Geht es uns gut dabei? Ich kann und will mich der Hektik durch Smartphone und Co. nicht völlig entziehen, das gehört in diesen Jahren einfach dazu zum Leben, meine ich.
Nichtsdestotrotz gewinne ich immer wieder dann einen harten Dämpfer in meiner Zeitplanung, wenn meine Kinder um mich sind. Ich schreibe bewusst „gewinne“ einen Dämpfer, denn das ist zwar unsagbar anstrengend, kann aber auch so wohltuend sein! Kinder haben die Gabe, einfach zu sein; einfach da zu sein, zu leben, ohne Gedanken an gerade oder gleich.
Geht es ihnen gut dabei? Ich denke schon. Zumindest sollten wir achtsam mit dieser Gabe umgehen und unsere Kinder nicht verfrüht in unsere hektische Welt pressen und sie von ihrem „Schlendrian“ heilen. Im Gegenteil: Lassen wir uns mal öfter von ihnen anstecken!