Mehrere Klassen überspringen, in der Pubertät schon an die Uni, eine spezialisierte Begabtenschule besuchen – es gibt verschiedene Wege, mit der Hochbegabung eines Kindes umzugehen. Die Fachwelt spricht bei drei aufgezeigten Wegen von Akzeleration, Enrichment oder Separation. In jedem Fall ist es enorm wichtig, ganz genau hinzuschauen und individuell von Kind zu Kind den am besten geeigneten Weg zu wählen. Denn Hochbegabung ist nicht gleich Hochbegabung. Welche Möglichkeiten gibt es und auf was sollten Eltern unbedingt achten?
Was bedeutet Hochbegabung?
Mozart, US-Schachweltmeister Bobby Fischer oder der Violinen-Virtuose Yehudi Menuhin verbindet eine Gemeinsamkeit – sie galten schon früh als Wunderkinder ihres Fachs. Das Wunderkind ist heute aus der Mode gekommen. Es wird eher von einer Hochbegabung gesprochen. Stars in Physik oder der klassischen Musik wird oft ein solcher Status zugeschrieben. Hochbegabung ist also nicht automatisch mit einem überdurchschnittlichen Verstand in allen Bereichen verbunden. Vielmehr ist eine differenzierte Sichtweise nötig. Auch wenn eine Differenzierung bei Kindern oft schwierig ist, sollten Eltern Experten zur Abklärung einer eventuellen Hochbegabung aufsuchen, wenn ihr Kind erste eindeutige Anzeichen für eine Hochbegabung aufweist.
Hochbegabung wird von Außenstehenden als Geschenk empfunden, welches sie sich für den eigenen Nachwuchs wünschen. Der Grund ist recht einfach: Hochbegabte, so zumindest die verbreitete Meinung, erreichen im Leben mehr als der Durchschnitt. Beispiele wie das von Laurent Simons aus Brügge, der mit acht Jahren Abitur gemacht hat, untermauern diese Haltung. Der Alltag mit einem hochbegabten Kind sieht für Eltern aber oft nicht so strahlend aus. Ein großes Problem ist nicht selten eine Verhaltensauffälligkeit hochbegabter Kinder. Und wer mehr „im Köpfchen hat“ als Altersgenossen, braucht eine sehr spezielle Förderung.
Wie wird Hochbegabung gemessen?
Schlagwort Hochbegabung – hier wird zuerst an einen überdurchschnittlichen IQ (Intelligenzquotient) gedacht. Und tatsächlich arbeitet die Wissenschaft (in diesem Bereich die Psychologie) mit dem IQ als Messkriterium. Aber: Heute existieren länderspezifische Unterschiede. Diese basieren auf der Tatsache, dass die Skaleneinteilung der Standardabweichung variiert. Heißt für Deutschland: Gemessen wird mit einer Skala, deren Durchschnitt bei 100 liegt. Die Standardabweichung wird mit 15 angegeben. Um hochbegabt zu sein, muss eine IQ-Wert von mindestens 130 erreicht werden.
IQ-Tests: Fehleranfälliger Hochbegabtentest?
Wissenschaft lebt davon, dass sich Sachverhalte quantifizieren lassen – sie müssen also messbar sein. An der Festlegung des Status „hochbegabt“ über den IQ regt sich immer wieder Kritik. Bildhaft kann die Hochbegabung besser als Schnittmenge zwischen
- hohen intellektuellen Fähigkeiten
- Motivation
- Kreativität
beschrieben werden. Um sich von der reinen Fokussierung auf den IQ zu lösen, sind in der Vergangenheit einige Wissenschaftler dazu übergegangen, Hochbegabung in einen Kontext mit den Interaktionen bezüglich der Umwelt zu bringen.
„Hochbegabte haben es einfach leichter“
Das Vorurteil „Hochbegabte haben es einfach leichter“ hören Eltern mit hochbegabten Kindern immer wieder. Doch dass hochbegabte Kinder immer zeitlich eher als Gleichaltrige rechnen, lesen und schreiben können, ist ein Irrtum. Auch, dass sie sich in jeder Disziplin leichter beim Lernen tun. Auffassungsgabe, Wissensdurst und sprachliche Fähigkeiten sind wesentlich besser als Indiz geeignet. Wenn Kinder hierdurch auffallen, wird häufig auch der erste Verdacht geweckt, dass eine Hochbegabung vorliegen könnte.
Trotzdem ergeben sich durch die oben genannten Faktoren natürlich Erleichterungen für das Lernen von neuen Sachverhalten. So benötigen Hochbegabte eventuell weniger ausgefeilte Lernmethoden und Lernhilfen. Dinge wie der richtige Lernrhythmus oder auch das nötige Maß an Konzentration sind häufig von allein vorhanden oder können auf einfachem Wege erfüllt werden. In anderen Bereichen können sich jedoch auch Probleme einschleichen.
Hochbegabung: Das Problem soziale Kompetenz
Ein weiteres Klischee, mit welchem Eltern immer wieder konfrontiert werden, lautet: „Kinder mit Hochbegabung werden soziale Problemfälle.“ In der Praxis liegt die Wahrheit wie so oft irgendwo in der Mitte. Es gibt Fälle, in denen ein hochbegabtes Kind zwischen seinen Altersgenossen kaum auffällt – rein seine sozialen Fähigkeiten betreffend. Es teilt eine ähnliche Freude am Spiel und ist auch sonst Teil der Gruppe – mit den für Kindern der Altersgruppe ganz typischen Problemstellungen.
Trotzdem machen insbesondere Berichte über Verhaltensauffälligkeiten immer wieder die Runde. Hochbegabte fühlen sich – so die verbreitete Meinung – in Klassen mit normal begabten Schülern einfach unterfordert. Hier setzt sich eine Spirale in Gang. Die Unterforderung führt dazu, dass sich Schüler innerlich von der Schule verabschieden. Die Folge sind nachlassende Lernleistungen, Verhaltensauffälligkeiten und eine Abwertung der Schüler durch Lehrer. Für diese Gruppe der Hochbegabten, die übrigens etwa 10 Prozent bis 15 Prozent der Hochbegabten ausmachen, hat sich der Terminus „Underachiever“ eingebürgert. Kinder mit Hochbegabung fallen mitunter im Verhalten negativ auf – und gelten dann als zappelig oder tragen den Stempel ADHS.
Förderung bei Hochbegabung – welche Wege sind möglich?
„Drück einem Hochbegabten einfach ein Lehrbuch in die Hand, er bringt sich den Stoff schon bei.“ Eine solche Haltung katapultiert Kinder in den meisten Fällen unweigerlich ins Aus. Das Problem: Hochbegabt ist nicht gleich Hochbegabt. Einige Kinder mit besonders hohem IQ sind Sprachgenies und lernen bereits im Grundschulalter mit Leichtigkeit komplexe Sprachen wie Japanisch oder Chinesisch. Andere Hochbegabte haben ihre Stärker eher im Bereich der Naturwissenschaften. Soll heißen: Sie können mit ihren Lehrern bereits in der Pubertät über Quantenmechanik und Teilchenphysik diskutieren oder trauen sich an Probleme der Höheren Mathematik. Möglicherweise zeigen sie aber im sprachlichen Bereich keine auffällige Begabung. Wenngleich sich Hochbegabte meistens auch auf allen anderen Gebieten verhältnismäßig leicht tun. Eine Inselbegabung auf der einen Seite und eine Minderbegabung in einem anderen Lernbereich sind eher die Seltenheit.
Diese individuelle Prägung der Hochbegabung ist eine Hürde, die Eltern überwinden müssen. Auf der anderen Seite steht eine Herausforderung, an welcher Familien zu scheitern drohen. Es geht um entsprechende Angebote in Deutschland. In Anbetracht eines um sich greifenden Lehrermangels und Herausforderungen wie Inklusion oder Migration – wo soll da noch Platz für die Begabtenförderung sein?
Schule beschleunigen: Das Akzelerationsmodell
Hochbegabte nehmen Stoff oft schneller auf als Gleichaltrige und können auf das Wiederholen zum Erlernen verzichten. Heißt: Übungsaufgaben und Repetitorien sind für diese Gruppe schlicht Zeitverschwendung. Müssen sie sich dem normalen Lerntempo anpassen, sind sie unterfordert und langweilen sich. Um Hochbegabte zu fördern, kann zum Ansatz der Akzeleration – sprich der Beschleunigung gegriffen werden. Hier sind unterschiedliche Ansätze denkbar, wie:
- Überspringen einzelner Klassen
- Teilnahme an Fächern höherer Klassen (Drehtürmodell)
- Juniorstudium
- D-Zug-Klassen
Die Akzeleration kann bereits in der Grundschule einsetzen. Um eine Überforderung (fachlich wie sozial) zu vermeiden, sollte mit entsprechenden Beratungsfachkräften die Akzeleration betreut werden. Hintergrund: Hochbegabte Kinder bewegen sich zwar intellektuell auf einem anderen Niveau. Bei den Emotionen gleichen sie aber immer noch Gleichaltrigen. Gerade in den ersten Schuljahren und ganz besonders bei der Frage der Schulfähigkeit oder Schulreife sind sozialemotionale Fähigkeiten für die Zufriedenheit und das „gelungene Ankommen“ des Kindes relevanter als kognitive Fähigkeiten.
Enrichment: Der gleiche Stoff, intensiver vermittelt
Der englische Begriff Enrichment setzt in der Begabtenförderung darauf, dass der Schulstoff im Rahmen des normalen Unterrichts vermittelt wird. Hochbegabte erhalten allerdings eine deutliche Vertiefung des Stoffs. Dabei soll es nicht einfach um mehr Übungsaufgaben gehen. Enrichment setzt auf ein tieferes Eindringen in die Thematik. Beispiel radioaktiver Zerfall: Während normal begabte Schüler mit den bekannten Formeln arbeiten, kann Hochbegabten deren Herleitung zur Aufgabe gemacht werden. Bezüglich der Umsetzung bieten sich verschiedene Möglichkeiten an wie: Projektarbeiten, Lernverträge, AGs mit Hochschulen usw. Enrichment bietet sich für gut integrierte Schüler an.
Separation: Lerngruppen und Begabtenklassen
Die Separation ist eine dritte Option, welche Schulen für die Hochbegabtenförderung in Betracht ziehen können. Hier werden Hochbegabte in speziellen Lerngruppen und Klassenverbänden zusammengefasst. Einfach alle Kinder mit besonderer Begabung in einem Raum zusammenstecken, wird der Zielsetzung nicht gerecht. Es kommt auch hier darauf an, jedes einzelne hochbegabte Kind angemessen zu fördern. Im Kontext bedeutet dies einen hohen zusätzlichen Aufwand – etwa durch das Grouping nach Leistungsstärke. Separation bietet sich in Situationen an, wo betroffene Kinder im normalen Klassenverband sehr starke Probleme haben.
Was können Eltern im Alltag tun?
Hochbegabung ist kein rein schulisches Problem. Betroffene Kinder leiden auch in der Freizeit an Unterforderung. Für Eltern ist das Ganze eine Herausforderung. Eltern können einiges im Alltag tun, um ihre hochbegabten Kinder bestmöglich zu begleiten. Daher ist die Abklärung einer eventuell vorliegenden Hochbegabung auch grundsätzlich ratsam. Gerade in den ersten Lebensjahren findet eine Orientierung statt, welche zum Wechselbad der Gefühle werden kann. Aufgabe der Familie ist es, den hochbegabten Nachwuchs zu fördern – etwa durch Besuche in Museen, Sommerunis und -camps, eine kleine Bibliothek zu Hause, Wissens-/Lernspiele, Zugang zu Wissensdatenbanken im Internet. Betroffene Eltern sollten einen Fehler nicht machen: Alles allein leisten zu wollen. Verschiedene Verbände für Hochbegabte bieten heute Hilfe – auch in Form von Beratung – an.